Das Dresdner Modell ist ein Qualitätsentwicklungsverfahren für den Krippenbereich und macht kindliches Wohlbefinden zum Ausgangspunkt für pädagogisches Handeln. Damit schließt es eine Lücke in der Verfahrenslandschaft, insbesondere für den Bereich der Betreuung von unter Dreijährigen. Das Verfahren wurde am Forschungszentrum der Evangelischen Hochschule Dresden (ehs Zentrum) in Zusammenarbeit mit kommunalen KiTas der Stadt Dresden entwickelt. Mit dem Bezug auf Wohlbefinden ist es eine Ergänzung zum Entwicklungs- und Bildungsanspruch vorhandener QE-Verfahren über den U3-Bereich hinaus.
Das Dresdner Modell wurde über mehrere Jahre in enger Zusammenarbeit mit der pädagogischen Praxis entwickelt. Sowohl inhaltliche Schwerpunkte als auch der Aufbau und Umfang der Instrumente wurde hierbei auf den pädagogischen Alltag im U3 Bereich zugeschnitten. So wurde sichergestellt, dass ein pädagogisches Qualitätsinstrument aus der pädagogischen Praxis heraus für die pädagogische Praxis entwickelt wurde, welches von den Pädagog*innen als praxisnah und praxistauglich empfunden wird.
Im Mittelpunkt steht eine videogestützte Beobachtungsmethode, mit der die Pädagog*innen das Wohlbefinden von Kindern anhand sogenannter „Feinzeichen“ einschätzen können. Feinzeichen basieren auf einem entwicklungs-psychologischen Modell und sind Signale für Entwicklungsbereitschaft bzw. für Stress bei Kindern. Neben dem kindlichen Wohlbefinden haben die Pädagog*innen die Möglichkeit, die Interaktion von Fachkräften und Kindergruppen in den Blick zu nehmen. Der gemeinsame, moderierte Austausch über die Beobachtungen ermöglicht es, den Pädagog*innen schnell auf situative Herausforderungen im pädagogischen Alltag reagieren zu können.
Perspektiven im Dresdner Modell
Um das kindliche Wohlbefinden zu fördern, bietet das Dresdner Modell drei unterschiedliche Perspektiven, mit welchen die Pädagog*innen sich Beobachtungssequenzen nähern können:
1. Das kindliche Wohlbefinden
2. Die Interaktion pädagogischer Fachkräfte
3. Das Gruppenklima
Perspektive Wohlbefinden Kind
Das Dresdner Modell geht davon aus, dass das situative Wohlbefinden von Kindern die Basis für deren Lernen ist. Aus diesem Grund macht das Dresdner Modell das kindliche Wohlbefinden zum Ausgangspunkt von Qualitätsentwicklung. Mit diesem ersten Fokus und den dazugehörigen Materialien können die pädagogischen Fachkräfte das Wohlbefinden einzelner Kinder beobachten und einschätzen. Ausgehend von der einzelnen Beobachtung werden in dem anschließenden Austausch pädagogische Ableitungen entwickelt, die möglichst vielen Kindern zugute kommen. Hierbei können z.B. Handlungsalternativen der Fachkräfte, Abläufe im pädagogischen Alltag, oder räumliche und materielle Bedingungen in den Blick genommen werden.
Perspektive Interaktion Fachkraft
Pädagog*innen kommt bei der Förderung des kindlichen Wohlbefindens eine besondere Aufgabe zu. In ihren täglichen Interaktionen mit Kindern sind sie gefordert, die verbalen und nonverbalen Signale der Kinder wahrzunehmen und zu deuten, um anschließend angemessen darauf reagieren zu können. Um die Selbstbestimmung der Kinder zu sichern und so Missverständnisse zu vermeiden, ist ein beständiger Aushandlungsprozess mit den Kindern von Bedeutung. Mit dem Fokus Interaktion Fachkraft können Pädagog*innen einzelne Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern einschätzen und mit Hilfe der Materialen des Dresdner Modells überlegen, was ihnen im Umgang mit Kindern besonders wichtig ist und wie sie diese Umgangsweisen sichern können.
Perspektive Gruppenklima
Den Großteil ihres Krippenalltags bewegen sich Kinder in Gruppen, sei es in Bezugsgruppen, in Kleingruppen oder in selbstgebildeten Kindergruppen. Diese Gruppen sind eine bedeutende Quelle für das kindliche Wohlbefinden und somit für die kindliche Entwicklung. Aus diesem Grund bietet das Dresdner Modell die Möglichkeit, Kindergruppen gezielt in den Blick zu nehmen. Hierbei können pädagogische Fachkräfte reflektieren, an welcher Stelle ihr Handeln in Gruppenkontexten von Bedeutung ist, um das Klima innerhalb einer Kindergruppe zu fördern und wann Kindergruppen Herausforderungen bereits selbstständig bewältigen können.
Ähnliche Situationen
im pädagogischen Alltag
bilden den Ausgangspunkt für
Qualitätsentwicklung, die konsequent
am Wohlbefinden von Kindern
ausgerichtet ist.
Es ist ein ganz gewöhnlicher Kita-Tag zur Mittagszeit, zwischen Spielzeit und der Mahlzeit. Einige Kinder ziehen sich noch um, andere sitzen bereits am Tisch und warten darauf, dass ein Getränk verteilt wird. So wie jeden Tag werden die Kinder ihre Becher vom Geschirrwagen holen und die Gruppenerzieherin wird im Anschluss daran reihum die Becher mit Wasser füllen.
Lucia ist gerade zur Tür hineingekommen, das Kind bleibt stehen, schaut sich um. Die Hände am Kopf wickelt es Haare um den Finger. Der Blick scheint abwesend. Die Fachkraft ruft dem Kind zu: »Lucia, nimm dir einen Becher.« Das Kind stößt seinen Namen aus. Dann läuft es umher, scheinbar ziellos; es bleibt immer wieder stehen, dreht Haare um seinen Finger. Das geht eine Weile so, bis die Fachkraft Lucia erneut anspricht »Lucia, nimm dir einen Becher und such dir einen Platz.« Lucia senkt den Kopf, schaut kurz auf, nimmt die Hände in den Mund und läuft weiter umher.
Die Fachkraft ruft dem Kind nach einiger Zeit wieder zu, nun mit aufforderndem Tonfall und etwas lauter als zuvor: »Lucia! – Nimm deinen Becher und such dir einen Platz.« Lucia sieht kurz auf, lächelt leicht, senkt dann jedoch den Blick und legt ihren Kopf auf die Schulter. Während Lucia die Beine überkreuzt, ihren Oberkörper leicht hin und her dreht, die Arme dicht am Körper hält und mit den Fingern am Stoff ihres Pullovers nestelt, aber nicht noch einmal reagiert, geht die Fachkraft zu ihr.
Sie sagt: »Lucia, komm, hast du Durst, wir gehen an deinen Platz.« Sie führt das Kind daraufhin an der Schulter zu seinem Platz und gibt ihm einen Becher mit Wasser. Lucia trinkt, die Anspannung weicht einem Lächeln.
Die dargestellte Beispielgeschichte kann Ausgangspunkt für die Qualitätsentwicklung mit dem Dresdner Modell sein. Lucia zeigt mittels nonverbaler Zeichen wie dem Löckchen-Drehen oder dem Legen des Kopfes auf die Schulter, dass sie emotional belastet ist. Ausgehend von dieser konkreten Situation in ihrem eigenen pädagogischen Alltag können die Pädagog*innen Qualität über den gemeinsamen Austausch entwickeln. So könnten sie in diesem Falle bspw. diskutieren, wie sie den Übergang zwischen Spielzeit und Mittagessen gestalten könnten, damit möglichst viele Kinder eine klare Orientierung in der Situation haben und sich sicher und wohl fühlen.
„… dass man vielleicht jetzt auch ein Stück schneller auf so ein Vormittagsschläfchen reagiert, wenn die Kinder sich so Löckchen drehen. Und dass die Kollegen das auch so benennen und sagen: ‚Der dreht Löckchen, der scheint jetzt müde zu sein, den legen wir mal eine halbe Stunde hin‘. Da denk ich, [...] so ein paar Sachen haben da schon Einzug gehalten.“
„Wir waren so begeistert von diesen AHA-Effekten, dass wir uns draußen im Garten hingestellt haben und gesagt haben: ‚Schaut mal, was man da alles sehen kann!“
„Ja in der Videografie (...) hab ich so gemerkt, es hat mir unheimlich viel gebracht weil ich einmal einen anderen Blick auf mich selber hatte. Und auch diese Feinzeichen von den Kindern konnte man wesentlich schneller und feiner erkennen und auch darauf dementsprechend reagieren, so dass es den Kindern wirklich auch besser geht oder es sich wirklich wohler fühlt.“
"...schon alleine die Diskussion ist für mich das Wertvollste. Überhaupt [...], nur durch Erfahrung lernen sie. Und durch Gespräche lernen Erwachsene.“
„Es ist natürlich auch Teamentwicklung vom Kind aus.“
"Es ging eher um [...] die Diskussion: Was ist denn damit gemeint? [...] Is das jetzt richtig oder falsch? [...] Also jedenfalls geht es ja da nicht darum: Wir arbeiten richtig! Sondern es geht darum: Geht es dem Kind gut, und, können wir uns reflektieren, können wir noch was verändern in unserm Verhalten, und fühlt sich das Kind wohl.“
Die Publikation zum Dresdner Modell umfasst u.a. Instrumente, Checklisten, Vorlagen zum Datenschutz und Beschreibungen von Abläufen im Verfahren. Eine beigelegte Broschüre enthält vertiefende Texte zur Theorie des kindlichen Wohlbefindens, zum Konzept des Verfahrens, zur Qualitätsentwicklung in der Frühpädagogik und zum Datenschutz.
Die Publikation ist erhältlich unter:
Verlag Das Netz
ISBN 978-3-86892-156-4
29,90 €
www.verlagdasnetz.de
Autoren: Kathleen Neher, Sylvi Sehm-Schurig, Petra Schneider-Andrich, Wenke Röseler, Ivonne Zill-Sahm, Bernhard Kalicki